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Was der Mensch so alles im Kopf hat

Prof. Dr. Tim Christian Kietzmann

Eigentlich, so sagt man ja immer, gebe es seit Gottfried Wilhelm Leibniz und dessen Zeitgenossen Isaac Newton oder vielleicht noch Alexander
von Humboldt keine wahren Universalgelehrten mehr. Gut, Johann Wolfgang von Goethe vielleicht noch, der ja nicht nur Schriftsteller und Politiker war, sondern der im hohen Alter seine naturwissenschaftliche Arbeit in der Farbenlehre noch über sein literarisches Werk stellte.

Ach ja, und den Zwischenkieferknochen des Menschen hat er auch noch entdeckt. Universalgelehrte dieser Preisklasse gibt es heute also nicht mehr. Daran ändert auch ein Richard David Precht nichts, denn es reicht ja nicht aus, sich einfach nur selbst für den universalen Schlauberger zu halten.

Wenn es in der modernen Wissenschaft aber überhaupt jemanden zumindest in die Nähe der universellen Gelehrtheit der Altvordern brächte, dann könnte der eigentlich nur aus der Kognitionswissenschaft kommen. Diesen Eindruck gewinnt zumindest jeder, der sich mit Tim Christian Kietzmann über seine Arbeit unterhält. Der ist erstens Ordentlicher Professor für Maschinelles Lernen und zweitens als international renommierter Wissenschaftler auch gleich noch ein Aushängeschild des Instituts für Kognitionswissenschaft an der Universität Osnabrück. Aber vor allem ist er ein ebenso begeisterter wie begeisternder Forscher, der für sein Thema brennt und auf die lockere Frage nach seinen Hobbys ebenso locker antwortet, dass er sein Hobby zum Beruf gemacht und also, neben Familie, keine Zeit für weitere Hobbys habe. Und der sich für die Gehirnleistung von Delfinen ebenso begeistern kann wie für die Feinheiten des autonomen Fahrens von Autos.

Genau diese enorme Bandbreite der modernen Kognitions-wissenschaft legt eben auch den historischen Vergleich zu den Universalgelehrten nahe. Hier wird vereinfacht gesagt interdisziplinär erforscht, wie Informationen wahrgenommen und verarbeitet werden und schließlich zu Entscheidungen und Handlungen führen. Und zwar einerseits in den Gehirnen
von Menschen oder Tieren, aber andererseits auch in der Software von Rechnern oder Maschinen. Damit ist die Kogni-tionsforschung ein Schlüssel für das Verständnis und die Entwicklung der in allen Lebensbereichen immer wichtiger werdenden Künstlichen Intelligenz (KI), was ihr einen Spitzen-platz in der öffentlichen Wahrnehmung von universitärer Forschung sichert – und die führende Köpfe wie Tim Christian Kietzmann zu einer Art von Stars in der Welt der Wissenschaft macht. Auch wenn er das selber nie so ausdrücken würde. Aber es hat natürlich gute Gründe, warum die Universität Osnabrück gerade ihn schon mit Anfang 40 abgeworben hat vom bekannten Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour der niederländischen Universität Radboud, wohin ihn seine wissenschaftliche Karriere nach Stationen an der englischen Eliteuniversität Cambrigde und dem Vanderbilt Vision Research Center in Nashville, USA, geführt hat.

Wobei der Ruf aus Osnabrück für Kietzmann, der aus Springe bei Hannover stammt, auch eine Rückkehr war: „Ich habe hier studiert und promoviert und wusste also, was für eine  groß-artige Uni mich in Osnabrück erwartet.“ Nach seinem Abitur mit Auszeichnung habe er geschwankt zwischen einem Studi-um der Medizin in Göttingen („Hätten meine Eltern klasse ge-funden“) und der Kognitionswissenschaft in Osnabrück („Das kannte damals noch kaum einer“), es wurde dann Osnabrück und der junge Student glücklich mit seiner Wahl: „Das war der erste Studiengang für Kognitionswissenschaft in ganz Deutschland und genau mein Ding.“

Die Universität Osnabrück habe mit der Kognitionswissenschaft ganz früh auf das richtige Pferd gesetzt, was einer der Gründe für die heutige internatio-nale Strahlkraft des Instituts sei: „Hier sind wirklich tolle und sehr motivierte Studentinnen und Studenten aus der ganzen Welt, die unbedingt dieses Fach und unbedingt genau an dieser Uni studieren wollen.“ Auch seine Arbeitsgruppe mit klugen Köpfen unter anderem aus Indien, der Schweiz, Irland, China, Deutschland und den Niederlanden ist international aufgestellt, gesprochen wird in Lehre und Forschung nur englisch.

Über das menschliche Gehirn, den Gegenstand seiner Lehre und Forschung, kommt Kietzmann ansatzlos ins Schwärmen: „Ein Kraftwerk, das aus 86 Milliarden Zellen besteht und mit nur 18 Watt Stromverbrauch solche unfassbaren Leistungen vollbringt, ist eigentlich ein unglaubliches Wunder.“ Die-ses so wunderbare Gehirn und seine so wundervollen Funktionen versuchen der junge Professor und sein Team zu durchleuchten, was dank neuester Technologie immer besser gelingt. Der Schwerpunkt der Forschung am Lehrstuhl liegt dabei auf der visuellen Wahrnehmung und Informationsverar-beitung in Mensch und Maschine. Und auch wenn die Osnabrücker Wissenschaftler das Hirn inzwischen aufgeteilt in millimeterkleine Würfel so haar-klein wie noch nie beobachten können, so bleibt doch vieles immer noch rätselhaft. Grundlagenforschung eben, wie Kietzmann lächelnd sagt: „Da kann es schon mal passieren, dass man sehr lange etwas sucht, was aber gar nicht da ist.“ Ein hohes Maß an Resilienz sei da unverzichtbar.

Das Institut für Kognitionswissenschaft ist eines der Aushängeschild de Universität Osnabrück. Copyright: Simone Reukauf

Obgleich bei dieser Grundlagenforschung die konkrete Anwendung etwa in der industriellen Produktion nicht unmittelbar im Fokus stehe, sei ein mittel-barer Nutzen fast immer gegeben: „Deshalb sind wir nah dran zum Beispiel an den Herstellern von Landmaschinen, die im Osnabrücker Land starke Arbeitgeber sind.“ Da sei der Name seines Lehrstuhls, das „Maschinelle Lernen“, eben auch Programm, so Kietzmann: Moderne Erntemaschinen etwa seien mit einer Vielzahl visueller Sensorik ausgestattet, die von den Erkenntnissen der Forscher über das menschliche Sehen und die Verarbeitung dieses Gesehenen im Gehirn profitiere. Forschung vom Menschen zur Maschine, quasi – was auch umgekehrt von der Maschine zum Menschen funk-tioniert, denn die Forscher nutzen die neuen und rasant wachsenden Möglichkeiten der KI, um Hirnforschung zu betreiben.

Wieder ganz nah dran am alten Universalgelehrten ist dabei das breite Fundament, auf dem das Forscherhaus der Kognitionswissenschaftler steht. Denn hier sind neben Informatikern und Mathematikern, neben Neurowissenschaftlern und Biologen eben auch Psychologen, Linguisten und Philoso-phen in Lehre und Forschung immer mit im Team. Da wird also nicht nur erforscht, was alles machbar ist, sondern es wird auch fundiert durchdacht, ob alles Machbare auch wirklich gemacht werden soll und darf – und wenn ja, warum und für wen. Diese gesellschaftliche Verantwortung und diese Wir-kung von Wissenschaft in die Zivilgesellschaft hinein ist auch Tim Christian Kietzmann wichtig: „Wir sind keine Professoren im Elfenbeinturm, sondern wir wollen der Gemeinschaft, von deren Steuergeld unsere Arbeit bezahlt wird, auch offensiv zurückmelden, was wir hier tun.“ Deshalb widmen Spitzen-forscher ihre Zeit auch der Wissenschaftskommunikation, wie etwa dem von Kietzmann initiierten Projekt „Brain Buzz“, bei dem Hunderte Schülerinnen und Schüler im Botanischen Garten der Uni Osnabrück mit den Themen der Kognitionswissenschaft vertraut gemacht werden.

Das Team der Kognitionswissenschaft ist interdisziplinär aifgestellt. Dazu gehören Informatiker und Mathematiker, Neurowissenschaftler und Biologen als auch Psychologen, Linguisten und Philosophen. Copyright: Simone Reukauf

Die Stadt Osnabrück ist für den zweifachen Vater übrigens nicht nur als Hochschulstandort attraktiv: „Wenn ich Kolleginnen und Kollegen aus unserer internationalen Forschergemeinschaft von Deutschland und vor allem von Osnabrück erzähle, dann ist das immer ein kleiner Werbeblock und reicht von der erstklassigen Kinderbetreuung über das gute Gesundheitssystem bis hin zur Sicherheit im Alltag.“ Zum Vergleich führt er seine Zeit in Cambrigde an, wo die Betreuung der Kinder derart teuer sei, dass ein zweites Gehalt mehr als aufgefressen werde und es billiger gewesen sei, wenn ein Elternteil da-heimbleibt. Und auch die Größe Osnabrücks sei für ihn ideal, da fast alle Wege mit dem Fahrrad machbar seien und dennoch die umfangreichen Ange-bote einer kleinen Großstadt genutzt werden können.

Bleibt zum Abschluss noch die Suche nach einem schönen Zitat und da soll jetzt passend zum Thema die KI mal zeigen, was sie schon so kann: Also ChatGPT, suche ein passendes Zitat von Goethe zur Künstlichen Intelligenz! Hier die Antwort, sogar mit Interpretation:

„Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, nur das Leben lehrt jedem, was er sei.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I).

Dieses Zitat lässt sich interpretieren, dass der Mensch erst durch Interaktion mit anderen Menschen und durch das Leben selbst seine wahre Natur und Identität erkennt. Im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz könnte man es so verstehen, dass auch Maschinen oder KI durch ihre Beziehung zu uns Menschen definiert werden, da wir sie erschaffen und ihnen Bedeutung geben. Vielen Dank, wir hätten es nicht schöner sagen können.

Institut für Kognitionswissenschaft an der Universität Osnabrück

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